In den Jahren 2023 und 2024 setzt Rosa Brunner ihre Feldforschung im Tessin im Vallemaggia fort. Als dort im Juni 2024 die verheerende Flutkatastrophe passierte, wurde sie Teil dieser Geschichte.
Am Ende des Maggia-Tals, im Valle di Peccia befindet sich oberhalb des Flusses der einzige Marmorsteinbruch der Schweiz. Inmitten von Gneis- und Granitformationen erhebt er sich wie eine mehrstöckige Festung am Hang. Dieser helle, grobkristalline Marmor wird seit 1946 abgebaut. Seit 2010 ist der Steinbruch im Besitz der Familie Maurino.
Hier einige, noch unsortierte Eindrücke:
Wasser und Stein
August 2023
Drei Wochen Feldforschung am Cristallina Steinbruch. Mit Fotos und Skizzen die malerischen Bruchwände und Stollen festgehalten. Damals hielt ich mich vor allem im Flussbett der Peccia mit Blickkontakt zum Steinbruch auf. Denn interessanterweise wird hier der Abraum über den Hang in den Fluss gekippt. Unter den diversen natürlich geformten Flusssteinen sind folglich Marmorbrocken mit Werkspuren zu finden. Werkspuren, in denen die Abbaugeschichte des Steinbruchs lesbar ist und die je nach Verwaschung von ihrer Zeit im Fluss erzählen.
Bruch und Umbruch
Juni 2024
Während ich mich in Peccia aufhielt, löste stundenlanger Starkregen vom 29. auf den 30. Juni eine der größten Flutkatastrophen im Tessin aus. Über Nacht hatte sich dabei die Situation am Steinbruch dramatisch verändert. Der Weg dorthin war weggespült, der Steinbruch teilweise ins Tal gerutscht. Erst Flut, dann Steinwüste.
Ich fühlte mich wie betäubt. Die Bilder der Zerstörung erschreckten und faszinierten mich gleichzeitig auf sonderbare Weise. Diese unfassbaren Dimensionen. Fatales Chaos inmitten beschaulicher Idylle. Mein Projekt schien mit dieser Katastrophe beendet.
Nach der Schockstarre begriff ich die Katastrophe als Teil der Feldforschung und damit die Feldforschung als Prozess. Der Cristallina Steinbruch am Hang war für mich nun unzugänglich, dafür gab es im Flussbett eine ungeheure Menge blank gewaschener und frisch gebrochener Steine in allen möglichen Farben und Strukturen. War ich schon während meines ersten Aufenthalts viel am Flussbett der Peccia, um den Charakter des Steinbruchs zu studieren, so wurde es diesmal auf ganz andere Weise Zentrum meiner künstlerischen Auseinandersetzung.
Artist in Residence
August, September, Oktober 2024
Während eines dreimonatigen Atelieraufenthalts am Centro Internazionale di Scultura Peccia setzte ich meine Feldforschung fort. Ich konzentrierte mich auf das neu entstandene Flussbett bei Peccia, das mich in seiner dystopischen Anmutung inspirierte. Die erstarrte Situation des gigantischen Flussbetts ohne Wasser galt es für mich in eine künstlerische Form zu übersetzen. Ich sammelte unterschiedliche Flusssteine, kappte diese und formte jeweils ein Gegenüber aus Flusssand und Weißzement. Die entstandenen Spiegelungen meiner 17-teiligen Serie „Livello“ imaginieren im Kontrast zur Flutkatastrophe stilles Wasser, wie ein Innehalten danach.